Straßenkinder in Maputo sind bewaffnet. „ Ein Messer hat jeder“, bestätigt Domingo. Schließlich gibt es ständig Kämpfe mit anderen Gruppen von Straßenkids; es gibt Feinde und Verbündete, es gibt Reviere, die geschützt werden müssen. Ob er Angst hat? „Nao“, sagt er, und nach einer Pause: „Somos forte.“ – Wir sind stark.
Stark ist ein Straßenkind nur in der Gruppe. Zu Domingos Gruppe gehören ungefähr zehn Jungen; er ist mit seinen dreizehn Jahren der jüngste. Die anderen sind fünfzehn, sechszehn Jahre alt. Am Rande der Innenstadt, nicht weit von Maputos Hafen, haben Sie eine Brachfläche hinter einer Mauer in Beschlag genommen und Hütten aus Pappkartons gebaut. Ein bisschen abgelegen und von der Straße aus nicht zu sehen – ein idealer Platz. Einer der Jungen sitzt an der Feuerstelle und kocht in einem zerbeulten Pott ein paar Maniok-Wurzeln- „Wir haben immer genug zu essen“, sagt Domingo. Woher das Geld kommt? „Betteln, Autos waschen, Parkplätze bewachen.“ Eben das, was Straßenkinder auf der ganzen Welt tun. Von Klauen und Überfällen sagt Domingo nichts. Als wir danach fragen, kommt wieder das langgezogene „Nao…“
Ein bisschen abwesend wirkt er, mit seinem nach Nirgendwo gerichteten Blick, seinen langsamen Bewegungen, seiner leisen, schleppenden Sprache. „Schnüffelst Du Cola, Domingo?“ „Nao…“ Die anderen Jungen lachen. Natürlich schnüffelt er; alle tun das. Cola, Lein, das ist die Droge der Straßenkinder, hier in Mosambiks Hauptstadt Maputo ebenso wie in Bombay oder in Lima. „sniffin’ glue“ ist billig und wirksam, zur Betübung und um den Hunger nicht zu spüren. Im Laufe der Jahre reißt es irreparable Löcher ins Gehirn.
Straße in den Knast
Domingos Gruppe zählt sich zur ersten Liga der Straßenkinder Maputos. Sie haben ihre Hütten; die Innenwände beklebt mit Popstars, Fußballern und Mädchen. Niemand taucht auf, um sie von hier zu verjagen. Jedenfalls bisher nicht. Es sind selbstbewusste Burschen, die wissen, wie man mit Halsketten und Armreifen rasselt. Alles im Griff, signalisieren Sie, keine Probleme. Doch die Zukunftschancen dieser Jungen sehen trübe aus. Die meisten können nicht lesen und schreiben, und in ihrem Alter, nach all den Jahren auf der Straße, sind sie nicht mehr in normale Schulen zu integrieren. Wer keine Ausbildung hat, hat keine Chance in Mosambik. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent.
Niemand will ewig auf der Straße bleiben. „Später will ich einmal in einem richtigen Haus leben und eine Familie haben“, das sagen alle Straßenkinder. Und zweifeln anscheinend nicht daran, dass es auch so kommen wird. Doch später sehen sie für sich nur eine Alternative: Armut und Obdachlosigkeit oder Kriminalität und Gewalt. Für viele endet die Straße in einem der dreckigen und überfüllten Gefängnisse.
Amigo Joseph
Zwei Partnerorganisationen von terre des hommes in Maputo wollen den Kindern helfen, diese Einbahnstraße zu verlassen. Eine davon heißt Amigos da Crianca – Freunde des Kindes. Bei den Amigos treffen wir Joseph, der hier als Sozialarbeiter und Lehrer arbeitet. „Das größte Problem ist es, erst einmal Zugang zu den Jungen zu bekommen, von ihnen ernst genommen zu werden“, erklärt er. Er hat selbst lange dafür gebraucht. Immer wieder ist er ins Stadtzentrum gegangen, zu den criancas da rua, der Kinder der Straße. „Die sind es nicht gewohnt Erwachsenen zu vertrauen“, erklärt Joseph. „Normalerweise werden sie von Erwachsenen beschimpft und verjagt, manchmal auch verprügelt. Es ist schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen.“
Joseph kennt das Leben auf der Straße. Er erzählt uns von seinem Leben. Es ist eine sehr afrikanische Lebensgeschichte: Joseph kommt aus Burundi. Dort lebte er als Lehrer, bis der Krieg zwischen Hutu-Rebellen und der Tutsi-dominierten Armee ausbrach. Joseph musste fliehen, so wie fast eine Million Landsleute. Jeder sechste Einwohner des Landes wurde zum Flüchtling. Joseph verschlug es auf seiner Irrfahrt immer weiter in den Süden des Kontinents. Erst nach Tansania und schließlich nach Mosambik. „Eigentlich wollte ich weiter nach Swasiland, um Arbeit in einem Bergwerk zu finden“, erzählt er. Ohne Geld und Papiere war er einer der vielen Wanderarbeiter, die illegal versuchen, die die Grenze nach Swasiland oder Südafrika zu überqueren. Er wurde aufgegriffen und zurück nach Mosambik verfrachtet. „Ich hatte nichts“, sagt Joseph und lächelt. „Ich saß in Maputo auf der Straße und wusste nicht mehr, was ich machen sollte.“ Schließlich besorgte er sich einen Kamm und eine Schere und wurde Frisör.
Heute hat er Papiere und Aufenthaltserlaubnis, er hat einen Job, der ihm Spaß macht, und er konnte in der Rua do Tembe ein Zimmer mieten. Doch die Angst um seine Familie lässt ihn nie los: „Ich weiß nicht, wo sie sind und wie es ihnen ergangen ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben.“
Erbe des Krieges
Seine Geschichte verbindet Joseph mit vielen seiner Straßenkids. „Durch den Krieg in Mosambik sind viele Kinder auf der Straße gelandet“, sagt Joseph. „Schließlich sind 250.000 Kinder im Krieg zu Waisen geworden. Viel von ihnen haben niemanden, der sich um sie kümmert.“ Fast dreißig Jahre lang dauerte der Bürgerkrieg in Mosambik. In den frühen sechziger Jahren begann der bewaffnete Befreiungskampf gegen die portugiesische Kolonialmacht. 1975 wurde Mosambik unabhängig, doch der Krieg ging weiter: Finanziert hauptsächlich vom Apartheidsregime des Nachbarlandes Südafrika, griffen die Rebellen der RENAMO die neue sozialistische Regierung an. Durch den Krieg wurden mehr als fünf Millionen Menschen entwurzelt, 1,7 Millionen verließen als Flüchtlinge das Land. Unzählige Familien wurden durch den Krieg zerrissen, eine Million Menschen kamen ums Leben. Seit 1992 herrscht endlich Frieden in Mosambik, doch viele Menschen glauben noch nicht daran: für sie gehört der Krieg zum Leben, so wie die Armut und die Trockenheit. Die Folgen des Kriegs sind allgegenwärtig. Zwei Millionen Landminen behindern den Neuanfang. Die Slumgürtel rund um Maputo gehören ebenso zur Erbschaft des Krieges wie die obdachlosen Kinder, die auf den Straßen der Hauptstadt leben.
Ein neuer Tag
Maputos Innenstadt im Morgengrauen. Noch ist das Leben der Großstadt nicht erwacht. Die Geschäfte sind geschlossen, die Straßen menschenleer. Es ist kühl. Am Eingang zur Feira Popular, dem Vergnügungspark Maputos, schlafen Kinder auf dem Gehweg. Zehn oder zwölf mögen es sein – die übliche Größe dieser Gruppen. Als Unterlagen haben sie ein paar Fetzen Pappe ausgebreitet. Einer hat ein Stück Schaumstoff als Kopfkissen. Barfuß liegen sie da, dich beieinander, um sich zu wärmen. Auch zu dieser Gruppe gehört kein Mädchen. „Es gibt nur sehr wenig Mädchen auf den Straßen“, erklärt uns Joseph. „Manchmal schließt sich ein Mädchen einer Gruppe an; aber immer nur für kurze Zeit. Sie werden schlechte behandelt. Wenn sie können, gehen sie zu ihren Familien zurück. Wenn nicht, landen die meisten sehr schnell in der Prostitution.“
Stochern im Müll
Kinder verdienen auf der Müllhalde ihren Lebensunterhalt, indem sie Plastik oder Metall sammeln, das man an Schrotthändler weiterverkaufen kann. Andere Jungen und Mädchen suchen nach Spielzeug, oder wenigstens nach Dingen, aus denen man Spielzeug machen kann. Gebrechliche. Es ist eine raue Schule des Lebens. Die Mitarbeiter der Straßenkinderprojekte versuchen, den Kindern noch andere Lektionen zu vermitteln. Bei den Amigos da Crianca stehen ebenso wie bei Kanimambo Schule und Berufsausbildung im Vordergrund. „Das wichtigste ist, dass die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen – für sich und für andere“, meint Joseph, der Straßenlehrer der Amigos. „Aber das geht nur, wenn die Kinder es selbst wollen. Niemand kann sie zwingen.“ , die Kinder, die bei den Amigos und Kanimambo leben, haben sich gegen die Straße entschieden. Sie sind entschlossen, ihre Chance zu nutzen.
Von Stephan Stolze
Auszug aus der Broschüre „Straßenkinder“ von terre des hommes
Terre des hommes unterstützt zwei Zentren für Straßenkinder in Maputo. Das Projekt Kanimambo erhielt Fördermittel von 51.000 Euro; Amigos da Crianca wurde mit rund 25.000 Euro unterstützt.